Aus der Jubiläumsfeier des
SPD-Ortsvereins Oestrich-Winkel
„Der Rheingau in der frühen Arbeiterbewegung“
– Vortrag von Walter Hell –
Um die Mitte des 19.Jahrhunderts wurde auch der bisher rein agrarisch, besonders durch den Weinbau, geprägte Rheingau allmählich in den Prozess der Industrialisierung einbezogen. 1846 wurde in Johannisberg die Maschinenfabrik gegründet, 1856 die Eisenbahnstrecke Wiesbaden-Rüdesheim eröffnet und 1861 die chemische Fabrik Koepp ins Leben gerufen. Folglich entstand auch im Rheingau eine Industriearbeiterschaft, die sich politisch und ökonomisch zu organisieren begann. Dabei muss die frühe Rheingauer Arbeiterbewegung in engem Zusammenhang mit den Entwicklungen in Mainz und Wiesbaden gesehen werden. Mainz kann geradezu als ein Zentrum nicht nur sehr radikaler demokratischer Bestrebungen, sondern auch als ein Zentrum der frühen Arbeiterbewegung (1) gelten.
Ansätze zu einer Arbeiterbewegung reichen in Wiesbaden bis zu dem im Mai 1848 gegründeten „Arbeiterverein“, der auf seinem Höhepunkt ca. 100 Mitglieder zählte, zurück. Aus dem Verein ging 1850 der „Arbeiterbildungsverein“ hervor. Um 1860 existierten in Deutschland etwa 50 dieser Vereine, die sich jedoch primär nicht mit politischen und sozialen, sondern mit Bildungsfragen beschäftigten. Unter dem Lehrer und Mitstreiter von Marx und Engels, Karl Schapper, wurde in 1850 Wiesbaden auch eine Gemeinde des „Bundes der Kommunisten“ etabliert. Wiesbaden wurde in diesem Jahr zu einem der 18 Hauptorte des „Bundes“ in Deutschland. (2) Diese erste Phase der Arbeiterbewegung kam jedoch in den 50-er Jahren im Zuge der verschärften staatlichen Reaktion nahezu vollständig zum Erliegen.
Erst in den 60-er Jahren kam es zu einem kontinuierlichen Neubeginn, der sich auf ein allgemein aufblühendes Vereinswesen stützen konnte. Aus der erzwungenen Totenstille entwickelte sich eine neue Arbeiterbewegung. Ferdinand Lasalle schrieb denn auch am 24.6.1852 an Marx: Irre ich mich nicht, so wird gerade während dieser scheinbaren Todesstille die wirkliche deutsche Arbeiterpartei geboren.(3) So wurden auch die Jahre 1868-69 zu einem ersten Höhepunkt der Wiesbadener Arbeiterbewegung. Zu ihren Versammlungen kamen hunderte Teilnehmer. Die von dem am 23.5.1863 in Leipzig gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“(ADAV) seit 1864 herausgegebene Zeitung „Social-Demokrat“ hatte auch in Wiesbaden Abonnenten zu verzeichnen. Regelmäßige Bezieher hatte dort auch das von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) verantwortete Blatt „Volksstaat“, wie aus folgender Aufstellung hervorgeht (4)
1.12.1869 |
9 Abonnenten |
2. Quartal 1870 |
8 Abonnenten |
2. Quartal 1871 |
11 Abonnenten |
2. Quartal 1872 |
14 Abonnenten |
2. Quartal 1873 |
51 Abonnenten |
Der 1863 unter Lasalle gegründete ADAV unterhielt ab 1867 auch einen Zweigverein in Wiesbaden ; ab 1869 in Erbach im Rheingau. Die Mitgliederzahlen dürften noch bescheiden gewesen sein. Erst mit der Aufhebung des Koalitionsverbots 1869 war eine Entfaltung der Parteiarbeit z.B. auch auf dem Land möglich.
Im September 1869 weilte Karl Marx für kurze Zeit bei seinem Freund, dem Kaufmann Paul Stumpf (1826-1912), in Mainz.
Bereits im Januar 1865 hatte das „Mainzer Journal“ die deutsche Fassung der von Marx für die 1864 gegründete „Erste Internationale Arbeiterassoziation“ verfasste „Inauguraladresse“, einem Manifest an die arbeitende Klasse Europas, veröffentlicht. 1867 vertrat Stumpf in Lausanne auf einem Kongress der IAA eine Sektion in Mainz und in Wiesbaden. Bei ihrem Besuch in Mainz, wo sie einen Kongress der I.A.A. vorbereiten wollten, der aber wegen des 1870 ausbrechenden deutsch-französischen Krieges nicht stattfinden konnte, machten Marx und seine Freunde auch einen Abstecher zu Gesinnungsfreuden nach Wiesbaden.(5) Dort war bereits am 4.4.1848 unter dem Einfluss des Kommunisten Schapper in einem Manifest die Beseitigung des Missverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit und Abhilfe für den Notstand der arbeitenden Klassen gefordert worden.(6)
Im Rheingau waren 1847/1848 in Rüdesheim, Geisenheim und Winkel Turnvereine entstanden, die sich republikanischen Ideen verpflichtet fühlten. Diese schlossen sich dem demokratischen „Mittelrheinischen Turnverband“ in Mainz an.(7) Am ersten Kongress der „Demokraten“ vom 14. bis zum 17.6.1848 in Frankfurt am Main nahm auch ein Vertreter aus Geisenheim teil.(8) Auf diesem Kongress vertraten 234 Delegierte 89 Vereine aus 66 Orten. „Demokratische Vereine“ entstanden auch in Rüdesheim und wahrscheinlich in Winkel.(9) Dort wurde auch ab 1.Juli 1849 der republikanische „ Rheingauer Volksbote“ von Adam Herber (10) herausgegeben.
Schon in den 30-er Jahren hatten sich führende deutsche Liberale um Adam von Itzstein, einen Schüler des radikalen Mainzer Jakobinerführers Andreas Hofmann, der von 1803 bis zu seinem Tod 1849 in Winkel lebte, in Hallgarten zum demokratisch-republikanischen Gedankenaustausch zusammengefunden.(11) Auf diese demokratischen Traditionen konnte die 1869/1870 im Rheingau entstehende Arbeiterbewegung zurückgreifen.
Auf dem Gründungskongress der SDAP, der vom 7. bis zum 9.8.1869 in Eisenach stattfand, wurden Wiesbaden (773 Auftraggeber), Erbach (31Auftraggeber) sowie vier weitere Orte von dem in Wiesbaden lebenden Lasalleaner Leonhard von Bonhorst vertreten.(12) Von Bonhorst (13), am 20.6.1840 in Kaub in eine adelige Beamtenfamilie geboren, war von 1865-1869 als Kaufmann in Wiesbaden ansässig und betrieb dort eine Warenhandlung. 1865 gelang ihm die Gründung eines Konsumvereins. Im selben Jahr trat er dem „Arbeiterbildungsverein“ bei, der sich 1866 mit anderen Vereinen zum „Mittelrheinischen Arbeiterbund“ zusammenschloss. In dem „Arbeiterbildungsverein“ erteilte er unentgeldlichen Unterricht. Außerdem versuchte von Bonhorst eine Arbeiterturnbewegung ins Leben zu rufen.(14) Nach einer Begegnung mit Marx im Oktober 1869 näherte sich von Bonhorst immer mehr den Positionen der SDAP unter Bebel und Liebknecht an, obwohl er seit 1867 als Bevollmächtigter des ADAV für Wiesbaden fungierte. Nach seinem Wegzug aus Wiesbaden ließ er sich in Braunschweig nieder, wo er am 3.7.1870 als Schriftführer in den leitenden Ausschuss der SDAP gewählt wurde. Er wurde zum ersten hauptberuflichen Sekretär der neuen Partei. 1870 wurde er verhaftet und zeitweise nach Ostpreußen abgeschoben. 1871 wurde er im Braunschweigischen Hochverratsprozess wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz zu 3 Monaten Haft verurteilt. Nach dieser Haft zog er sich aus der Politik zurück. Er verstarb 1915.
Ende 1869 zählte die SDAP in 135 Orten Mitglieder. Zu diesen „alten“ Orten gehörte neben Erbach auch Winkel, wie aus zwei Berichten des Parteiausschusses vom Juni 1870 hervorgeht.(15) Beide Ortsgruppen hatten von der Zentrale „Gründungsmaterial“ angefordert. Die beiden Ortsgruppen existierten also zumindest noch zu diesem Zeitpunkt. Als „neuer“ Ort- insgesamt waren es 25- kam 1870 noch Mittelheim hinzu.(16) Die Rheingauer Stützpunkte der SDAP dürften zahlenmäßig noch recht klein gewesen sein.
Auf dem Kongress der SDAP vom 4. bis zum 7.6.1870 in Stuttgart, auf dem 66 Delegierte 13147 Mitglieder aus 113 Orten vertraten, wurden 205 Parteimitglieder aus Wiesbaden und Mittelheim durch den in Winkel wohnhaften Johann Michael Hirsch (17) repräsentiert. Erbach war auf dem Kongress nicht vertreten. (18) Verhandlungsgegenstände auf dem Kongress waren die Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung sowie die politische Stellung der Partei. Da die Rheingauer Stützpunktgruppen auf dem Vereinigungsparteitag von ADAV und SDAP 1875 in Gotha nicht mehr vertreten waren, ist davon auszugehen, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierten.
J. M. Hirsch hatte auf dem Gründungskongress der SDAP 1869 schon 100 Auftraggeber aus Biebrich vertreten. Sechs Jahre später auf dem Vereinigungsparteitag repräsentierte er 25 SDAP-Mitglieder aus Wiesbaden. Im Jahr zuvor –1874– kandidierte er für die Partei im Wahlkreis Rheingau-Untertaunus-Wiesbaden bei den Reichstagswahlen. Hirsch war führendes Mitglied des ADAV, bevor er zu Bebel und Liebknecht überschwenkte. Im ADAV wurde er zum entschiedenen Gegner des sich diktatorisch gebenden Präsidenten Johann Baptist von Schweitzer. Hirsch, der schon als Kind am Webstuhl das Arbeiterelend kennen gelernt hatte , veröffentlichte die ersten sozialdemokratischen Liederbücher, was ihm eine mehrmonatige Haftstrafe einbrachte.
Dass ein Engagement in der Arbeiterbewegung durchaus existenzbedrohend sein konnte, belegt der Fall von zwei sozialdemokratischen Arbeitern der Maschinenfabrik Johannisberg. Als ihre Parteimitgliedschaft 1878 der Geschäftsleitung bekannt wurde, wurden sie fristlos entlassen.(19) Doch der Siegeszug der Sozialdemokratie war nun trotz des 1875 erlassenen Sozialistengesetzes auch in unserer Region nicht mehr aufzuhalten. Wurden für die SPD 1884 bei der Reichstagswahl im Wahlkreis Rheingau-Untertaunus-Wiesbaden erst 342 Stimmen (2,2%), davon 199 im Rheingau , abgegeben, so waren es bei den Reichstagswahlen am 20.2.1890 bereits 5162 (26,4%), davon im Rheingau 697.Die Hochburgen der Sozialdemokratie waren bei dieser Wahl Geisenheim und Winkel, wo 146 bzw. 136 Wähler für die Partei votierten.
Dass die Sozialdemokratie auch im Rheingau erfolgreich Fuß fassen konnte, ist nicht zuletzt den Pionieren der hiesigen Arbeiterbewegung zu verdanken, die schon 1869/70 versuchten eine Parteiorganisation ins Leben zu rufen, um die Belange der Arbeiterschaft nachhaltig vertreten zu können.
Bei der Jubiläumsfeier wurde Herrn Hell von einem Besucher ein altes SPD- Mitgliedsbuch des Winkeler Küfers Christian Diesler, geb. am 13.3.1897, in die SPD eingetreten am 14.1.1927, unterzeichnet vom Vorstand, Herrn Kremer, übergeben.
Fußnoten:
1) Josef Heinzelmann: Marx und Engels im Schatten des Mainzer Domes. In: Mainzer Zeitschrift. Bd. 70 (1975), S. 173. Die Anfänge der Kommunistischen Linken gehen dort bis in die zeit vor 1848 zurück.
- 2) Vgl. Wolf-Heino Struck: Die Anfänge der Arbeiterbewegung in Wiesbaden. In: Geschichtliche Landeskunde. Festschrift für Ludwig Petry. Teil 2. Wiesbaden 1968, S. 287-321 und Thomas Weichel :“Wenn dann der Kaiser nicht mehr kommt “. Kommunalpolitik und Arbeiterbewegung in Wiesbaden 1890-1914. Wiesbaden.1991,S.87-92. Zu Schapper: Armin Kuhnigk: Karl Schapper.Nassaus Tribun deutscher Arbeiterbewegung. Limburg 1980. Schapper war 1848 auch einer der Mitunterzeichner des „Kommunistischen Manifests“. Am 20. April 1848 gründete Schapper auch in Mainz eine Gemeinde des Bundes der Kommunisten. An dieser Gründung war u.a. Germain, der Sohn des Mainzer Jakobiners Mathias Metternich beteiligt.
3) Die deutsche Arbeiterbewegung 1848-1919 in Augenzeugenberichten. München 1976,S.103.
4) Zusammengestellt nach: Dieter Fricke:Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.Bd.1.Berlin 1987,S.503-505.
5) Im April 1848 hatten sich Marx und Engels das erste Mal mit Gesinnungsgenossen in Mainz getroffen. Vgl. Heinzelmann (wie Anm. 1), S. 173- 75 und Gerhard Beier :Arbeiterbewegung in Hessen .Frankfurt am Main 1984,S.148-149. Zu Stumpf: Beier, ebenda, S.145,149 und 577 und Heinzelmann (wie Anm.1), S.174 und Anm 10, S. 176..
6) Vgl. Beilage der „Freien Zeitung“ Nr.34 vom 6.4.1848.
7) Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW), Abteilung 210, Nr.7458.
8) Vgl. Struck (wie Anm.2), S.304.
9) Vgl. Michael Wettengel: Die Revolution von 1848/49 im Rhein-Main-Raum. Wiesbaden 1989, S.560 und 562 sowie Kartenbeilage 3b und 3c.
10) Der Bruder Adam Herbers, Anton, kandidierte 1848 erfolglos für die „Fortschrittlichen“ als Bürgermeister in Winkel. 1873 vertrat Anton Herber , Weingutsbesitzer in Winkel, den Rheingau als Abgeordneter im Kommunallandtag des Regierungsbezirks Wiesbaden
11) Vgl. Walter Hell:Andreas Joseph Hofmann-ein radikaler Republikaner im Rheingau. In: Rheingau-Forum 1/2003 ,S. 8 und 4/2003, S. 24.
12) Die Delegiertenliste ist abgedruckt in: Fricke (wie Anm.4), S.21-35. Der Mainzer Stumpf führte bei dieser Parteigründung 1500 Mitglieder der Deutschen Sektion der I.A.A der SDAP zu. Vgl. Heinzelmann (wie Anm. 1),Anm. 5, S.173..
13) Zu von Bonhorst: Beier (wie Anm.5),S.142 und 380-381. Informationen aus erster Hand bieten: Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Bd.2. Berlin 1960 (zuerst 1898),S.324,327,333,343,350,357,377,379 und 389 sowie August Bebel: Aus meinem Leben. 2.Teil. Berlin 1946. (zuerst 1911),S.91,156,159,179-180 und 307. Von Bonhorsts Vater war Offizier (Hauptmann) und nassauischer Beamter (Rechnungsrat).
14) Vgl. „Wiesbadener Anzeiger“ Nr. 114 vom 15.5.1867.
15) Vgl. Fricke (wie Anm.4), S.53-55.
16) Ebenda, S. 68.
17) Zu Hirsch: Mehring (wie Anm.13), S.235,263, 333.und 344.
18) Ebenda, S. 65-68 und Beier (wie Anm.5), S.142.
19) Vgl. HHStAW Abteilung 415, Nr. 11.